]Beim Thema Gründen und Start-Ups denkt man heutztage häufig an junge, bärtig-hippe Studenten, die kurz vor dem Master Millionenbeträge von Investoren einsacken, ihren Tag auf dem Office-Playground und die Nächte auf angesagten Parties verbringen und zum 30. Geburtstag ihren Laden für ein paar hundert Millionen an Google oder Facebook verkaufen. Dieses Zerrbild der Selbständigkeit wird verstärkt durch Fernehformate wie die Höhle der Löwen, wo man sympathische junge Gründer mit teils verrückten, teils pfiffigen Ideen sich vor einer mehr oder weniger prominenten Jury präsentieren und in gefühlt mühelosen 3 Minuten ein paar zehntausend Euro abstauben oder ein paar bissige Kommentare zur öffentlichen Belustigung ernten sehen kann.
Manchmal bekommt man den Eindruck, die Welt wird nur noch fortbestehen durch völlig neu gedachte Konzepte für althergebrachtes. Disruptiv und schrill muss eine Idee sein, die Firmen-Website mus eine .io – Endung haben und irgendwie müssen ein paar Buchstaben verdoppelt oder verwürfelt werden und dem Millionärsdasein steht nichts mehr im Wege.
Das ganze ist, wie gesagt, ein Zerrbild. Einem Großteil der Startups steht ein mehr oder weniger schleichendes Siechtum bevor, wenn nicht gar ein schmerzhaftes Ende am Schluss des Geldes und der Kraft. Nur einige wenige schaffen einen fulminanten Exit oder werden nachhaltig profitabel. Viele Gründer rackern sich über Jahre bei geringem Einkommen einer besseren Zukunft entgegen. Bei manchen kommt dann nach ein paar Jahren Durststrecke ein profitabes Business dabei heraus, viele können von ihrem Business mehr oder weniger gut leben, und einige haben tollen Erfolg und
natürlich haben viele vermeintlich verrückte Ideen sich zu enorm profitablen Firmen entwickelt, und ja, im Prinzip kann jeder es versuchen, und manche schaffen es, mit einer Vier-Stunden-Woche passives Einkommen von 3000 Euro und mehr pro Woche zu erwirtschaften.
Dass es auch eine andere Realität gibt, zeigt uns dieser Artikel auf Spiegel Online: Mehr als hunderttausend Selbststädige brauchen Hartz IV:
2007 bezogen demnach 66.910 Selbstständige Hartz-IV-Leistungen, im vergangenen Jahr waren es 117.904.
Auch das ist Selbständigkeit: viele Menschen gründen ein Gewerbe als Notbehelf, weil sie in einer bestimmten Branche keine andere Beschäftigungsmöglichkeit mehr sehen, und einige davon können sich auch damit nicht ernähren.
Nicht besonders überraschend an dieser Stelle ist aus meiner Sicht, dass die einstmals viel besungene Ich-AG, der Versuch, arbeitslose Menschen durch finanzielle und teils auch praktische Unterstützung aus der Arbeitslosenstatistik in die Selbständigkeit überzuleiten, einen signifikanten Anteil an dieser Zahl hat:
Über ein besonders geringes Einkommen verfügen demnach Menschen, die eine sogenannte Ich-AG gegründet haben
Diese traurige Statistik wirft einige wichtige Fragen auf, die man sich in diesem Zusammenhang stellen sollte:
- Ist unser Bild von Startups und dem schnellen Geld in der „neuen Gründerkultur“ gefährlich? Brauchen wir vielleicht ein etwas realistischeres Bild vom Gründer und dem Unternehmertum? Sollten wir unsere Nachfolgegeneration das Thema Selbstständigkeit in all seinen Facetten ganz anders heranführen?
- Gerne rufen wir nach einer neuen Gründerkultur und Änderungen in den bürokratischen Hürden der Selbstständigkeit. Gerne wird nach der Politik, dem Staat gerufen, der den Start erleichtern und Rahmenbedingungen ändern sollte. Aber liegen die Probleme wirklich hier? Das fulminante Scheitern der Ich-AG sollte den einen oder anderen Rufer nachdenkklich machen.
- Macht es Sinn, Menschen in die Selbstständigkeit zu drängen, um sie aus einer bestimmten Statistik zu hieven? Steckt wirklich in jedem ein Unternehmer?
- Macht es Sinn, ein Startup als vielversprechend zu feiern, das auf die gnadenlose Ausbeutung von schlecht qualifizierten Arbeitskräften, die dann als Subunternehmer gerne auch mal deutlich unter Mindestlohnniveau (und frei von jeder Sozialversicherungspflicht – ist das Bürokratieabbau?) arbeiten , um sich das U-Bahn-Ticket zur ARGE leisten zu können, wo sie dann Hartz IV beantragen?
Es tut mir leid, aber mir gefällt das klassiche Bild eines Gründers mit Herzblut, kaufmännischem Grundverständnis und einem Gefühl für seine unternehmerische Verantwortung noch immer besser. Auch wenn diese Gründer keine rauschenden Pitch-Parties feiern und keine disruptiven Weltverbesserungen hervorbringen. Natürlich braucht es auch neue Denkansätze, um Probleme zu lösen, neue Märkte zu erschliessen oder zu schaffen. Nur verallgemeinern sollte man hier nicht. Nicht jede Gründung muß spektakulär und disruptiv sein, und nicht immer werden Unmengen an Fremdkapital benötigt. Auch ein staatlicher Anschub kann sinnvoll sein, und nicht jeder Regelung in unserer Verwaltung ist unbürokratisch oder überhaupt notwendig.
Aber keiner dieser Punkte kann durch seine Verallgemeinerung oder Anwendung nach dem Gießkannenprinzip aus unserer sehr sicherheits-geprägten Arbeitnehmerkultur eine Nation des Aufbruchs und einer neuen Gründerkultur machen. Den Beweis, dass das nicht geht, liefern die Zahlen in der o.g. Statistik: einhunderttausend arme Selbständige sind eindeutig zu viel.
Nur, wie kann man dem begegnen? Sind diese einhunderttausend Menschen alle unfähige Selbstüberschätzer? Sind Sie an deutscher Bürokratie gescheitert? Hat ihnen unsere „Geiz ist Geil“-Mentalität den Boden unter den Füßen weggezogen? War der Schritt in die Selbständigkeit eine freiwillige und falsche Entscheidung, oder gibt es für Kurierfahrer, Gebäudereiniger, Schlachter und viele weitere Berufsgruppen einfach gar keine Alternative zu einer „Selbstständigkeit“ mehr? Wir rufen so gerne nach dem Staat, der da nun mal aufräumen soll: schon haben wir den Salat und wollen die Regelungen zur Scheinselbständigkeit verschärfen, drängen damit IT-Selbständige und Kreativarbeiter in eine juristische Grauzone und verhindern so viele Gründungen oder erschweren noch mehr Menschen den Weg in die Selbstständigkeit.